Von null auf 100 zu beschleunigen ist für viele Motorradfahrer ein Leichtes. Der umgekehrte Fall – die Vollbremsung – fällt weitaus schwerer. Das Bremsen mit dem Motorrad erfordert vom Fahrer viel Fingerspitzengefühl und Erfahrung, da im Gegensatz zum Pkw zwei unabhängige Bremsen mit unterschiedlichen Bedienungselementen richtig dosiert werden müssen. Dabei muss die vordere Bremse immer mehr betätigt werden und die hintere immer weniger, weil beim Bremsen eine dynamische Achslastverlagerung von hinten nach vorne eintritt.
Ein Bremssystem ist immer nur so sicher wie der Fahrer, der es bedient. Gerade Anfängern mangelt es oft an der notwenigen Erfahrung, um in einer kritischen Situation kontrolliert zu bremsen. Viele begehen zudem den Fehler, aus Angst vor einem Sturz zu zaghaft zu bremsen. Gleichwohl passiert es selbst geübten Fahrern, dass sie in einer Schrecksituation überbremsen oder Bremswirkung verschenken. Umso wichtiger ist ein zuverlässiges Bremssystem, das im Ernstfall über Leben und Tod entscheidet. ABS gehört dazu.
Technik und Funktionsweise
Kann Bremsen Todesursache sein? Ja, war die Antwort der Unfallforscher des Verkehrstechnischen Instituts der Deutschen Versicherer (VTIV). Der Hintergrund: drei zeitnah erfasste fast identische tödliche Unfälle, in denen Motorradfahrer mit modernen Sportmaschinen bei hohen Geschwindigkeiten gestürzt waren. In allen drei Fällen waren die Fahrer erschrocken, hatten das Vorderrad durch Überbremsung zum Blockieren gebracht und waren gestürzt. Alle drei Fahrer waren mit modernen Motorräder mit leistungsfähigen Bremsanlagen unterwegs: Die hohe Wirkung moderner Vorderradbremsanlagen kommt der Wirkung einer Vollbremsung nahe – die Vorderräder blockieren.
Ein Anti-Blockier-System kann hier Abhilfe schaffen, in dem es vor allem bei starkem Bremsen der Blockierneigung der Räder entgegenwirkt. Der Bremsweg verkürzt sich und das Motorrad bleibt steuerbar und bricht nicht aus. Besonders auf nassen Straßen kommt die Wirkung von ABS voll zum Tragen. Nur durch ABS sind Fahrer in der Lage, die Bremskraft schnell aufzubauen, weil sie keine Angst vor dem Überbremsen haben müssen.
Tipp 1: Bremsgefühl entwickeln Sicherheitsexperten raten, jedes Mal direkt nach dem Losfahren beide Bremsen nacheinander kräftig zu betätigen und sofort wieder loszulassen. Das schafft Gefühl für das Bremsen gleich zu Beginn der Fahrt. In einer realen Gefahrensituation wird durch das eingeübte Loslassen außerdem die Wahrscheinlichkeit eines Sturzes durch das Blockieren der Räder reduziert. Bei ABS-Motorrädern bremst man bei dieser Übung bis in den Regelbereich.
Tipp 2: Zielbremsungen vornehmen Während der Fahrt empfehlen sich darüber hinaus gelegentliche Zielbremsungen. Dazu sucht sich der Fahrer beispielsweise einen Baum oder ein Hinweisschild aus und versucht, exakt dort anzuhalten. Dabei ist natürlich das erste Gebot, auf den nachfolgenden Verkehr zu achten.
Tipp 3: Sicherheitstrainings absolvieren Nur in professionell angeleiteten Sicherheitstrainings bekommen Biker alle wichtigen Punkte zum richtigen und effektiven Bremsen vermittelt, in der Theorie und in der Praxis. Ein Vorteil: Auf den meisten Übungsplätzen stehen den Kursteilnehmern verschiedene Straßenbeläge zur Verfügung. Manche Anbieter stellen auch ABS-Maschinen zur Verfügung, um den Unterschied im Bremsverhalten kennen zu lernen. Denn auch mit ABS muss das gefühlvolle Bremsen intensiv geübt werden
Den nächstgelegenen Trainingsplatz und Termine erfahren Biker z. B. auf den Internetseiten des Instituts für Zweiradsicherheit (ifz) und des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR).
Beim Bremsen – einer vermeintlich simplen Handlung – laufen komplizierte Vorgänge ab. Mit Beginn der Bremsung setzt eine dynamische Achslastverschiebung von hinten nach vorne ein. Die Vorderradlast erhöht sich bei steigender Bremsverzögerung – gut sichtbar an der einfedernden Telegabel bei Maschinen mit konventioneller Vorderradführung.
Weil so am Vorderrad höhere Bremskräfte übertragen werden können, muss der Fahrer während der Bremsung zwei Dinge gleichzeitig tun: zum einen bei Erkennen des Hindernisses mit der Vorderradbremse stark bremsen, kurz vor Ende des Bremsvorgangs jedoch die Bremskraft verringern. Auch bei der Hinterradbremse tritt er zu Beginn möglichst hart auf den Bremshebel, muss dann aber nachlassen, da das Hinterrad im Verlauf der Bremsung immer mehr entlastet wird, im Extremfall sogar vom Boden abhebt. Dabei besteht die Gefahr, dass sich das Motorrad überschlägt.
In Unfallsituationen kommt das psychologische Moment dazu: Ein unerwartetes Hindernis taucht auf, der Fahrer erschrickt und reagiert falsch. Entweder er überbremst und löst die Blockierung des Vorderrades aus oder er bremst vor Schreck gar nicht oder nur verzögert.
Eine erhebliche Rolle für den Bremsvorgang spielt auch die Beschaffenheit der Straße und die Witterung: Der Unterschied, auf Asphalt, Kopfsteinpflaster, Rollsplitt oder rutschigen Bitumenflicken in der Bremszone zu fahren und zu bremsen, ist enorm. Hinzu kommen Nässe, Laub auf der Fahrbahn, Schnee. Je nach Beschaffenheit der Straße entsteht ein Reibwert, auf den sich der Fahrer einstellen muss. In vielen Situationen übersteigt es das menschliche Fahrvermögen, vorn und hinten den idealen Bremsdruck zu erzielen.